Genesene und Geimpfte gleichstellen: Virologen sagen, ob das richtig ist
Wer vollständig geimpft ist oder zuletzt mit Corona infiziert war, genießt in Deutschland wieder Freiheiten. Zudem muss er sich künftig nicht mehr testen lassen. FOCUS Online hat bei den Virologen Martin Stürmer und Friedemann Weber nachgefragt, ob diese Gleichstellung gerechtfertigt ist.
In Deutschland genießen vollständig Geimpfte und Genesene derzeit andere Rechte als der Rest der Bevölkerung. Für sie gilt weder die nächtliche Ausgangssperre noch das Kontaktverbot. Mit ihnen sind auch Treffen im größeren Rahmen erlaubt – denn beim Kontakte-Zählen müssen sie nicht mehr mitgezählt werden.
Doch wie sinnvoll ist es, Genesene und Geimpfte im Hinblick auf Freiheiten gleichzustellen? Und ist es fair, dass ein Genesener keinen Test mehr beim Restaurantbesuch vorzeigen muss, weil er ja bereits einmal infiziert war?
FOCUS Online hat mit den Virologen Martin Stürmer und Friedemann Weber über diese Frage gesprochen.
„Zunächst muss uns allen klar sein: Geimpfte und Genesene können das Virus nach heutigem Wissensstand weiter übertragen“, erklärt Martin Stürmer, Leiter eines privaten Labors für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik. Gleiches gelte für Getestete. „Ein Antigenschnelltest stellt nur eine Momentaufnahme dar, zudem ist er in einigen Fällen falsch negativ. Wenn wir also einer dieser drei Gruppen den Eintritt in den Zoo oder beim Friseur ermöglichen, dann den anderen beiden auch. In dieser Hinsicht empfinde ich die Gleichstellung nur als gerechtfertigt.“
Immunologische Unterschiede bei Geimpften und Genesenen
Allerdings kann es bei den Gruppen, insbesondere zwischen Geimpften und Genesenen, große Unterschiede geben - etwa im Hinblick auf das eigene Infektions- oder das Übertragungsrisiko, sagt Virologe Friedemann Weber. „‚Genesen kann ja auch jemand sein, der zwar mittels PCR-Test positiv war, tatsächlich aber kaum oder gar keine Symptome hatte“, erklärt der Leiter des Instituts für Virologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. „Diese Personen haben eine relativ schwache Immunität. Sie haben dann vielleicht so viel Immunität, dass sie vor einem schweren Verlauf bei einer Reinfektion geschützt sind. Aber es gibt auch immer wieder Durchbrüche.“
Laut Schätzungen hätten 13 Prozent der ehemals Infizierten zehn Monate nach Infektion keine neutralisierenden Antikörper mehr. Die Regel des Bundes zählt demnach nur diejenigen als Genesene, deren Infektion mindestens 28 Tage bis maximal sechs Monate zurückliegt. Doch sei nicht nur der Faktor Zeit für den Grad der Immunität relevant: „Es gibt auch eine Korrelation zwischen Schwere der Symptomatik und Schwere der Immunantwort." Aus immunologischer Sicht sei eine Gleichstellung von Genesenen mit Geimpften daher problematisch: "Bei den Genesenen können wir nicht verallgemeinern und nicht pauschal von Immunität ausgehen - bei den Geimpften schon eher. Sie haben eher eine gleichmäßige Immunreaktion", erklärt Weber.
Bislang kein Richtwert für Mindest-Immunität
Wie groß die Unterschiede des Infektionsrisiko etwa bei Geimpften und Genesenen ist, lässt sich den Experten zufolge nur schwer festmachen. „Es gibt eine dänische Studie, die zeigte, dass sich etwa zwanzig Prozent der Genesenen wieder anstecken“, erklärt Stürmer. Und das unabhängig davon, ob die Infektion schon weniger oder mehr als sechs Monate her ist. Das Risiko sei hier bei den Personen über 65 sogar deutlich weiter angestiegen, habe bei knapp über 50 Prozent gelegen.
„Nach der Infektion besteht also durchaus ein Risiko. Allerdings ist hier nicht klar, welche Rolle Mutationen dabei gespielt haben“, erklärt der Virologe. „Und das ist auch nur eine Studie, das ist noch kein eindeutiger Wert, den ich hier festmachen würde.“
Bei den Geimpften gebe es ebenfalls Daten – allerdings mit unterschiedlichem Ergebnis. „Eine US-Studie machte nach Impfung ein Infektionsrisiko von 0,8 Promille aus“, erklärt Stürmer. „In einer israelischen Studie ermittelten Forscher hingegen einen Wert von zehn Prozent oder noch höher. Das war allerdings unter Mitarbeitern des Gesundheitswesens – also unter Menschen, die einem enorm hohen Expositionsrisiko ausgesetzt waren.“ Bei vielen, die sich in Israel trotz Impfung infiziert hatten, war zudem die südafrikanische Variante gefunden worden. „Wir wissen bisher einfach noch zu wenig. Es ist schwer zu beziffern, wo genau das Risiko liegt.“
Das Problem: Es gibt bislang keinen Richtwert, der angibt, ab wann jemand „immun genug“ ist. „Um festzulegen, ab wann eine Person denn nach einer Infektion so immun ist, um mit den Geimpften in der Hinsicht auf Freiheiten gleichgestellt zu werden, müssten wir uns die Antikörper genauer ansehen“, erklärt Virologe Weber.
Für manche Impfungen gibt es einen solchen Wert. Bei diesen ist der sogenannte Antikörper-Titer festgelegt. Dieser Titer beschreibt die Menge der Antikörper, die gerade noch eine biologische Reaktion hervorruft, also die Mindestmenge. Sie wird laut Weber stets als die höchste Verdünnungsstufe der Lösung im Labor angegeben, bei der die Reaktion gerade noch auftritt.
„Bei Sars-CoV-2-Impfungen haben wir diesen Wert bislang nicht festgelegt“, sagt Weber. „Schätzungen gehen von einem Verhältnis von etwa 1:100 aus. Eindeutig geklärt ist diese Frage allerdings nicht.“
Relevant für Immunität: Die Menge der Antikörper
Bei der Frage nach der Immunität gibt es also keine guten oder schlechten Antikörper, die etwa Geimpfte oder Genesene haben. Es geht um die Menge. Wer bereits infiziert war, soll sich nach aktueller Empfehlung der Ständigen Impfkommission dennoch gegen Sars-CoV-2 impfen lassen. „Bei immungesunden Personen, die eine labordiagnostische gesicherte Sars-CoV-2-Infektion (PCR-bestätigt) durchgemacht haben, sollte eine einmalige Impfung frühestens 6 Monate nach Genesung erwogen werden“, heißt es auf der Seite des Robert-Koch-Instituts(RKI).
„Die Studienlage zeigt, dass die Antikörper bei den meisten Menschen rund sechs Monate nach der Impfung deutlich abnehmen. Bis dahin bleibt die natürliche Immunität erhalten. Es macht also Sinn, die Immunität mit dieser weiteren Impfung aufzufrischen“, erklärt Stürmer.
Das RKI erklärt auf seiner Seite außerdem, man wolle diese Zeitspanne „zur Vermeidung überschießender Nebenwirkungen“ einhalten. „Ich glaube, hier spielt weniger der gesundheitliche als der organisatorische Aspekt eine Rolle“, schätzt hingegen Weber diese Marke ein.
„Wir hatten einfach in den ersten Monaten viel zu wenig Impfstoff. Bislang ist ja auch noch nicht jeder geimpft, der nicht infiziert war. Demnach macht es Sinn, diejenigen, die zumindest schon etwas immunisiert sind, etwas später dranzunehmen. Als erstes kommen die, die gar keinen Schutz haben.“
Vor einer möglichen Auffrischungsimpfung, die auch bei den Doppelt-Geimpften anstehen könnte, sieht Weber vorerst keinen Grund, Genesene ein zweites Mal zu impfen. „Selbst, wenn das Immunsystem beim ersten Mal nur sehr leicht reagiert hat – es hat reagiert. Wenn wir dieser Reaktion mit einer Impfung dann nochmal einen Boost geben, ist der einmalgeimpfte Genesene auf dem gleichen Stand wie der Doppeltgeimpfte. Ab diesem Punkt sollten beide Gruppen gleichbehandelt werden.“